{Play}

Meisterlich

Im Lukasevangelium findet sich ein Gedanke, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Aber vielleicht kann man sich dem Gedanken doch so unvoreingenommen nähern, dass es zu reden beginnt. Ein Versuch ist es allemal wert. Lukas überliefert einen Satz, den Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.“ (Lk 6, 39.40)

© pixabay

Ein Film kommt mir in den Sinn. In Korea ist er entstanden. „Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling“ – so lautet sein Titel. Entlang der Jahreszeiten wird die Geschichte eines Lebens erzählt. Die Geschichte eines Lehrers und seines Schülers. Seines Jüngers, so könnte man wohl sagen. Denn was ist der Jünger anderes als ein Schüler? Ein Schüler in der Schule des Lebens. Der Schule des Glaubens. Ganz gleich, um welchen es sich dabei handelt.

Kurz erzählt, verhält es sich mit der Geschichte etwa so: Im Frühjahr wurde ein kleiner Junge von seiner Mutter an das Tor eines Klosters gebracht, das mitten in einem See liegt. Ein einziger Mönch wohnt dort. Der nimmt ihn auf, lässt ihn bei sich wohnen und unterweist ihn. Er soll lernen, seine Leidenschaften zu beherrschen. Seine grausamen und gewalttätigen Züge zu bändigen. Aber der Lust, die arme Kreatur zu quälen, wird der Junge nicht Herr. Unter seiner Hand sterben Fisch und Schlange.

Der Sommer kommt, die Liebe erwacht. Ein junges Mädchen kommt auf die schwimmende Insel. Eine Liebe entbrennt zwischen den beiden–leidenschaftlich. Und als die junge Frau das Kloster verlässt, folgt der junge Mann ihr nach. Allen Warnungen des alten Meisters zum Trotz.

Das Jahr schreitet weiter fort. Der Meister liest auf einem Fetzen Zeitungspapier von einem Mord aus Eifersucht. Gesucht wird sein ehemaliger Schüler. Der wendet sich, auf der Flucht vor der Polizei, an seinen alten Meister. Noch immer ist er voller Hass und Zorn, kurz davor, sich selbst das Leben zu nehmen. Da schreibt der alte Mönch mit Farbe auf die Holzbohlen den buddhistischen Satz der Sätze. Übersetzt heißt er in etwa so: „Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht.“ Und dann gibt er dem Mörder das Messer, an dem das Blut noch klebt und heißt ihn, die Schriftzeichen auszuschneiden. Buchstaben für Buchstaben, Wort für Wort. Um die Wut aus seinem Herzen zu schneiden.

Der Mörder wird gefangengenommen. Er verbüßt seine Strafe und kehrt nach Jahren in das Kloster zurück. Winter ist es geworden. Der Meister ist lange schon nicht mehr am Leben. Da kommt über das Eis eine verzweifelte Frau und legt ihren kleinen Buben dem nun Geläuterten vor die Füße.

Es wird Frühling – und das Rad dreht sich von Neuem. Aus dem Schüler ist ein Meister geworden.

Oft habe ich mir diesen Film angesehen, weil er mich berührt: Die stille Schönheit. Der Gang der Jahreszeiten, die je länger je mehr zur Parabel des Lebens werden. Auch die Geschichte, dass ein alter Meister einen Jungen an die Hand nimmt. Ihm weitergibt, was sein Leben durchdringt. Ihm sein Leben weitergibt.

Ich weiß, dass eine gewisse Skepsis gegenüber religiösen Meistern nicht ganz verkehrt ist. Und trotzdem: Es ist schon gut, Vorbilder zu haben. Vorbilder im Glauben. Es ist auch gut, sich in einer Tradition zu wissen. Zu wissen, wo man herkommt. Und: Es ist sehr entlastend, im Glauben nicht alles selbst erfinden zu müssen. In diesem Sinne kann ich ihn verstehen, den Satz von Jesus: „Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.“

Andrea Wagner-Pinggéra