Eine mutige Tat
Es ist der 9. Juli 1940: Anstaltsleiter von Lobetal, Pastor Paul Gerhard Braune, übergibt die Denkschrift: „Betrifft: Planwirtschaftliche Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ an die Reichskanzlei. Das ist nun 80 Jahre her. Und hat vielen Menschen das Leben gerettet.
Sich mit der Geschichte der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal zu beschäftigen heißt auch, sich zu vergewissern, was Richtschnur und Maßstab unseres heutigen Handelns ist. Einen der zentralen Sätze hat Friedrich von Bodelschwingh geprägt: „Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt.“
Immer wieder haben Menschen sich davon leiten lassen und Akzente gesetzt. Dazu gehörte auch Paul Gerhard Braune, Anstaltsleiter von 1922 bis 1954. Er nahm aufmerksam wahr, was die Nationalsozialisten im Schilde führten, nämlich die Tötung von Menschen, die pflegebedürftig, psychisch erkrankt oder behindert waren. Er konfrontierte die Führer mit seiner Analyse, die er in der Denkschrift: „Betrifft: Planwirtschaftliche Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ an die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße vor 89 Jahren übergab.
Paul Gerhard Braune hatte sie in enger Abstimmung mit Fritz v. Bodelschwingh, Anstaltsleiter von Bethel, verfasst, mit dem er eng verbunden war. Damit wurde das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten öffentlich, das im September 1939 begonnen hatte. Braune hatte durch diesen mutigen Schritt viele Menschen gerettet. Doch viel zu viele mussten trotzdem sterben.
Die 12-seitige Schrift beginnt mit den Worten:
„Im Laufe der letzten Monate ist in verschiedenen Gebieten des Reiches beobachtet worden, daß fortlaufend eine Fülle von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten aus planwirtschaftlichen Gründen verlegt werden, zum Teil mehrfach verlegt werden, bis nach einigen Wochen die Todesnachricht bei den Angehörigen eintrifft. Die Gleichartigkeit der Maßnahmen und ebenso die Gleichartigkeit der Begleitumstände schaltet jeden Zweifel darüber aus, daß es sich hierbei um eine großzügig angelegte Maßnahme handelt, die Tausende von lebensunwerten Menschen aus der Welt schafft.“
Dieser Einleitung folgen seitenlange erschütternde Details. Menschen mit Behinderungen, mit psychischen Erkrankungen werden abgeholt, in andere Einrichtungen gebracht und leben dort nicht mehr lange. Sie wurden ermordet. Die Informationen hatten beide Leiter aus ihren Netzwerken in der Inneren Mission (heutige Diakonie) in ganz Deutschland, von Kirchengemeinden und von weiteren persönlichen Kontakten erhalten und systematisch ausgewertet.
Die Getöteten waren Zielscheibe der „Aktion T4“, dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten, das im September 1939 begonnen wurde. Die „Aktion T4“ war benannt nach der Anschrift der Planungszentrale an der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Sie hatte zum Ziel die systematische Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen.
Braune ging den Dingen seit März 1940 auf den Grund. Er fand heraus, dass ein systematisches Tötungsprogramm angelaufen war. Dies fasste er in der zwölfseitigen Denkschrift zusammen. Darin dokumentierte er die Krankenmorde. Braune benannte darin drei Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg a. d. Havel und Hartheim. Er veröffentlichte die Namen, Adressen und geschätzten Todeszeitpunkte von mehr als 25 Patienten. Sein Fazit: „Es handelt sich hier also um ein bewusstes, planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind.“
Lobetal selbst wurde mit der „T4-Aktion“ im Mai 1940 konfrontiert: Aus dem Mädchenheim „Gottesschutz“ in Erkner sollten 25 „schwachsinnige“ Kinder und „anfallkranke“ junge Frauen abgeholt werden. Doch Braune und die leitende Diakonisse Elisabeth Schwarzkopf gaben die Menschen nicht heraus.
Am 12. August 1940 durchsuchten schließlich Gestapo-Beamte Braunes Haus, beschlagnahmten Akten und nahmen ihn fest. Am 31. Oktober 1940 kam Braune wieder frei, nachdem er eine Erklärung unterschrieb, „nichts mehr gegen den Staat und die Partei“ zu unternehmen.
Fazit: Braune durchbrach das Schweigen, machte T4 öffentlich und brachte kirchliche Proteste in Gang. Sein Mut und seine präzise Analyse sind unbedingt zu würdigen. Ob sie wirklich zum offiziellen Stopp der Tötungen am 24. August 1941 führten, ist in der Forschung umstritten. So urteilt der Historiker Hans-Walter Schmuhl: „Die zahlreichen vertraulichen Eingaben kirchlicher Würdenträger an die nationalsozialistische Regierung zeugen zwar von persönlicher Integrität, blieben aber völlig wirkungslos“ bei einer Veranstaltung der Topographie des Terrors im September 1999.
Am Ende wurden die Tötungseinrichtungen entweder geschlossen oder umfunktioniert. Das Morden geschah weiterhin dezentral und dauerte bis Kriegsende an. Nach Schätzungen wurden zwischen 200.000 und 300.000 Menschen getötet.
Wolfgang Kern
Fotos: © Archiv Hoffnungstaler Stiftung Lobetal