Sommerzeit
Sommerzeit. Ferienzeit. Für viele, die in den Urlaub aufbrechen, heißt das: Sehr früh morgens losfahren. Besser noch, in der Nacht. Der Tag zuvor ist vergangen mit der Suche nach Dingen, die unbedingt mitmüssen. Eingepackt werden muss ziemlich viel: Die ganzen Badeutensilien. Oder die Wanderausrüstung. Oder sogar beides. Hüte und Sonnencreme nicht vergessen! Genügend T-Shirts. Eine Hose, die sich auch für ein besseres Restaurant eignet. Bloß keine Krawatte. Es reicht schon, die im Büro tragen zu müssen. Dann noch all die Teddybären, Vorlese-CDs. Genügend Getränke. Taschenmesser, ausreichend Pflaster und Antiallergikum für alle Fälle. Schließlich geht es los - bis über bei Ohren vollbepackt. Die Autobahn in den Norden wahlweise in den Süden teilt man sich mit vielen tausend Anderen. Weit weg fliegen geht in diesem Jahr nicht. Aber die Nordsee ist doch auch ganz schön, das Allgäu. Polen, Frankreich und Kroatien auch.
Was ist das, das uns immer wieder in die Ferne schweifen lässt? Ist es nur die ungebremste Lust auf Meer und Sonnenschein? Die Suche nach anderen Kulturen, Dingen, die man gesehen haben muss? Die Sehnsucht nach den Bergen, der Natur, der körperlichen Herausforderung? Ganz sicher. Aber hinter der Reiselust steckt mehr. Da bin ich ganz sicher.
Die Suche nach der Fremde, die Reise-Sucht in der Tiefe zu ergründen, können andere besser. Mir sind zwei Gedanken wichtig. Die Suche nach Abwechslung hat etwas mit der Suche nach dem anderen Ich zu tun. Die Seite an sich selbst zu leben, die sonst so sehr kurz kommt. Warum um in aller Welt beschränken sich Menschen ein paar Wochen auf Zelt und Fahrrad, wo sie doch ihr echtes Leben perfekt eingerichtet haben? Eine Reise - eine Veränderung auf Probe. Ein paar Tage oder Wochen der oder die zu sein, die man eigentlich meint zu sein. Aber eben so selten dazu kommt.
Mein zweiter Gedanke: Hinter dem Fernweh steckt der Wunsch, ein paar Wochen im Jahr sorglos, die Sorgen los zu sein. Unbeschwert. Frei von dem üblichen Stress, den der Alltag nun einmal mit sich bringt. Im Urlaub, auf Reisen, so meint man den Sorgen zu entfliehen. Das stimmt natürlich nicht, aber trotzdem. Trotzdem ist es ein Motiv, so alt wie das Reisen aus Vergnügen.
Als Schülerin habe ich zum ersten Mal den Taugenichts von Josef v. Eichendorff gelesen. Und ihn gleich geliebt. Weil in ihm genau das von allen Sorgen los durch die Weltgeschichte zu reisen einen wunderschönen Ausdruck findet. Dies illustriert schon das Gedicht, das sich auf der ersten Seite findet:
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt.
Dem will er seine Wunder weisen,
in Berg und Wald und Strom und Feld.
Die Trägen, die zuhause liegen,
erquicket nicht das Morgenrot,
sie wissen nur vom Kinderkriegen,
von Sorgen, Last und Not um Brot.
Das Gedicht geht noch ein bisschen weiter, in demselben sorglosen Ton. Das ein bisschen naiv scheint sie - die Sorglosigkeit. Aber das ist nur ein raffinierter Trick. Eigentlich ist sie Ausdruck dessen, dass hier einer sein Geschick Gott anvertraut. Er sagt das auch:
Den lieben Gott lass ich nur walten;
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd und Himmel will erhalten,
hat auch mein Sach aufs best bestellt!
Damit nimmt das charmante In-den-Tag-hinein-Leben eine interessante Wendung: das ist nicht harmlos, sondern von einer großen Tiefe und Weisheit. Wer unbeschwert reisen will, von einem Tag zum andern, reist am besten mit leichtem Gepäck. Das allermeiste ist absolut verzichtbar, wenn nur eines dabei ist: Das Vertrauen ins Leben, das Vertrauen auf Gott. Wer dieses Vertrauen hat, der ist vielleicht nicht alle seine Sorgen los. Aber die Sorgen haben weniger Gewicht.
Wenn es gut geht, ist das Reisen genau das: Ein guter Ort und eine gute Zeit, die Sorgen los zu lassen. Und damit auch ein bisschen mehr zu dem zu werden, der man eigentlich sein möchte. Ich wünsche gutes Verreisen.
Pastorin Andrea Wagner-Pinggéra