Es barmt mich!
Wer die Komfortzone des bürgerlichen Lebens verlässt, der kann etwas erleben. Wer dem Vertrauten, allzu Vertrauten, für selbstverständlich Gehaltenen den Rücken kehrt und sich an die Ränder des Lebens und der Gesellschaft begibt, der kann etwas erleben. Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit sein sollte. Der erlebt zumindest einen Wechsel der Perspektive, vielleicht noch mehr: einen Seitenwechsel.
Manche haben diesen Seitenwechsel zu ihrem Beruf gemacht. Ich habe mich lediglich im Rahmen einer Fortbildung einmal für vierzehn Tage außerhalb des mir Vertrauten gewagt und in einer Erstunterkunft für Asylsuchende gearbeitet. Was ich da gesehen und erlebt habe, fand ich anstrengender als einen 12-Stunden-Tag im Büro. Die Menschen mit ihren Geschichten sind mir förmlich an die Nieren gegangen.
Im Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen hat sich gezeigt: Ich bin mit meiner Erfahrung nicht alleine. Es ist ganz gleich, wie dieser Rand nun heißt – ob man es mit jungen Männern zu tun bekommt, die vor Gewalt und Krieg geflohen sind und auf der Flucht die Hölle erlebt haben. Oder mit alten, verwirrten, totkranken, im Sterben liegenden Menschen, oder mit solchen, die mit erheblichen körperlichen oder geistigen Einschränkungen leben. Oder mit Kindern, die wegen ihres Elternhauses wenig Chancen haben, vielleicht sogar vernachlässigt wurden.
Wer nicht völlig abgebrüht ist oder sich aus Selbstschutz auf Regelungen und Verordnungen zurückzieht, dem gehen solche Erfahrungen nahe. Körperlich und seelisch. Angesichts dieses Leids spürt man schmerzlich die eigenen Grenzen. Oft genug auch einfach Hilflosigkeit und den Schrecken darüber, wie verletzlich Menschen sind. Für dieses Gefühl gibt es im Deutschen einen sehr passenden Ausdruck, der ein bisschen aus der Mode gekommen ist. Aber trotzdem. Noch findet sich das Verb im Duden: „Es barmt mich“. Gemeint ist ein zutiefst menschliches Gefühl, das aus dem Innersten, sozusagen aus dem Herzen kommt. „Es barmt mich“ meint viel mehr als einen Anflug von Sentimentalität, der sich bei besonders rührseligen Geschichten einstellt. Es ist die Antwort auf das Leid der Welt – bereit zu sein zum Mitleid.
Mitleid – oder sagen wir ruhig, Barmherzigkeit, Erbarmen, lassen sich nicht verordnen, behördlich dekretieren und schon gar nicht können oder sollen sie an Stelle von Recht und Gesetz treten. Und doch läuft menschliches Handeln ohne diese Regung Gefahr, zutiefst unmenschlich zu werden.
Erbarmen – mit diesem kleinen Wort sind wir mitten im Herzen des christlichen Glaubens. Erbarmen, Barmherzigkeit ist einer der Namen Gottes. Mehr noch: Gott ist das Erbarmen. Deswegen kommt er zu den Menschen, er wechselt die Seiten, wird selber Mensch: er kommt in einem unbedeutenden Landstrich zur Welt, einem Witz am Rande des Römischen Reiches. Er wird hineingeboren in Familienverhältnisse, die reichlich unorthodox sind und wächst in einem Umfeld kleiner Leute auf. Er geht zu den Kranken und Verachteten; es zieht ihn an die Ränder der Gesellschaft. Denn dort wird seine Botschaft vom Erbarmen Gottes verstanden und nur von dorther ist seine Botschaft zu verstehen. Gott ist Erbarmen. Das ist unerhört: Gott bleibt nicht bei sich selbst, ihn berührt das Schicksal von Menschen, erschüttert ihn nachgerade. Deswegen, um es etwas salopp zu sagen, verlässt er seine Komfortzone und wird Mensch. Indem Gott Mensch wird, verbinden sich Gott und Mensch auf eine Weise, das vom einen nicht mehr unter Absehung des anderen gesprochen werden kann. Deswegen gehören göttliches und menschliches Erbarmen untrennbar zusammen.
Wo Menschen sich erbarmen, barmherzig, wird etwas von Gottes Erbarmen sichtbar. In diesem Sinne verstehe ich auch, was der Evangelist Lukas Jesus in der Feldrede sagen lässt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Um es für die hell werden zu lassen, auf deren Leben Schrecken, Angst, Dunkel und Tod liegt. In diesem Sinn: Wir erbarmen uns oder Es barmt mich.
Andrea Wagner-Pingérra