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Damals wie heute: Farbe bekennen. Erinnerungen an den Mauerfall vor 30 Jahren

Am 10. November erinnerten sich Lobetalerinnen und Lobetaler bei einem Erzählcafé an 30 Jahre Mauerfall.

„Heute am 10. November vor 30 Jahren war der Tag danach. Der Tag nach dem Wunder der Grenzöffnung.“ So beginnt Wolfgang Kern die Gesprächsrunde des Erinnerungscafés, das anlässlich 30 Jahre Friedliche Revolution in Lobetal stattfand. Dazu eingeladen hatten die Stiftung und die Kirchengemeinde Lobetal. Nach einem Dankgottesdienst trafen sich die Lobetaler, um sich an die Ereignisse des Mauerfalls und die Zeit danach zu erinnern.

Wissen Sie noch, was Sie am Tag des Mauerfalls vor 30 Jahren gemacht haben?  Marianne Ludwig im Publikum erinnert sich noch sehr genau. „Ich wartete damals auf meinen Mann, der mit einer Lobetaler Wohngruppe in Berlin war, als ich auf einmal die Worte von Herrn Schabowski hörte: „Nach meiner Kenntnis…unverzüglich ... .“ Ein wenig unsicher sei sie schon gewesen, ob er auch wirklich zur vereinbarten Zeit kommen würde.

Auch Christian Steinke, heutiger Leiter des Rechnungswesens, erinnerte sich noch an den Tag. Damals wohnte er in der Marienburger Straße im Prenzlauer Berg und arbeitete in Lobetal. „An dem Abend habe ich das gar nicht so mitbekommen und bin auch erst am nächsten Tag zur Bernauer Straße gegangen, eigentlich nur um zu sehen, ob das vielleicht nicht nur ein Versprecher von Herrn Schabowski gewesen war. Wir hatten allerdings mitbekommen, dass in der Gethsemanekirche jeden Abend etwas los war. Niemand wusste damals, wie das ausgehen wird.“  

Die Veränderungen hätten sich schon länger angekündigt, berichtet Reinhard Kunze, damals Mitarbeiter der Epilepsie-Klinik Tabor. Die Nachbarländer wie Ungarn hätten ja ihre Grenzen geöffnet. Dann war die Belagerung der Prager Botschaft. Dass es am Ende dann doch so schnell ging, habe man nicht erwartet. Seine Ehefrau Elisabeth hielt sie sich trotz der Aufregung eher zurück. Sie sagte: „Wir hatten vier kleine Kinder, und ich war schwanger mit dem fünften. Ich konnte von zuhause nicht weg. Trotzdem war es eine spannende Zeit. Ich habe das Geschehen stundenlang am Radio verfolgt.“

Die Zeit danach sei hochpolitisch gewesen. „Es lag etwas in der Luft. Alle haben es gespürt", sagt Stephan Böttcher. Diskussionen um die Wünsche und Erwartungen für die Zukunft gab es überall. Und es war auch eine große Erleichterung. Ralf Klinghammer, heutiger Leiter der Jugendhilfe, brachte es so zum Ausdruck: „Es gab einen großen Wunsch nach Freiheit. Noch heute läuft es mir heiß und kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, dass Menschen, die man kannte, sich nach der Wende als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi herausstellten. Das war ein enormer Vertrauensbruch. Ich wünsche mir, dass so etwas nie wieder passiert. Zu erleben, dass man seinen Nachbarn nicht vertrauen kann… - das hat mich mein ganzes Leben geprägt.“ 

Für den Lobetaler Kantor Daniel Pienkny sind die Lieder lebendig, die damals bei den Treffen gesungen wurden: „We shall overcome“, „Sind so kleine Hände“ oder „Sag mir wo die Blumen sind“. Allesamt Lieder, die den Freiheitsdrang spüren ließen, in den Gottvertrauen und der unverzichtbare Wille nach Gewaltlosigkeit zum Ausdruck kommt.

Ungefähr drei Monate nach Öffnung der Grenze fand das Ehepaar Honecker Aufnahme im Pfarrhaus. Der damalige Anstaltsleiter Pfarrer Uwe Holmer hat dem Ehepaar für einige Wochen Asyl gewährt. Das war bei den Lobetalern durchaus umstritten und kam überraschend. Stephan Böttcher konnte das zu Beginn nicht gutheißen. „Ich war am Anfang nicht dafür. Hauptsächlich hatte ich Angst, dass Lobetal durch die Anwesenheit Honeckers unsicherer werden würde. Ich hatte Angst vor einem der Mob, der versucht, Lynchjustiz zu betreiben. Die Ängste haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Es hat sehr lange gedauert, bis ich die Entscheidung Holmers kapiert habe." Diese Gefühle bestätigt auch Christian Steincke. Auch er war unsicher. „Was sehr schwierig war, war der Presserummel, der hier entstand", erinnert er sich. Auch bei ihm brauchte es einige Zeit, um das Handeln von Pastor Holmer zu verstehen. Anders Elisabeth Kunze: „Ich habe diesen Schritt von Pastor Holmer gleich zu Beginn bewundert. Das war ein starkes Zeichen christlicher Feindesliebe. Das hat mich tief beeindruckt.“

Erinnerungen gab es auch zu den Überlegungen und Diskussionen, wie zu jener Zeit die Arbeit der Hoffnungstaler Anstalten weiter geführt werden solle unter den neuen Bedingungen. Schrittweise kam es zu einer Annäherung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, die ja bereits zu DDR-Zeiten gute Verbindungen zum Verein Hoffnungstal unterhielt und Unterstützung leistete. 

Zum Abschluss blickten die Gesprächsteilnehmer in die Zukunft. „In der Wendezeit haben wir gelernt, wie schnell Systeme kippen können. Binnen weniger Monate ist der DDR-Staat in sich zusammengefallen. Und ich habe das Gefühl, dass wieder Systeme kippen. Die Welt ist unruhig, die Herausforderungen sind global. Vielleicht ist das, was wir erlebt haben, nur ein blasser Vorläufer dessen, was kommt", sagt Reinhard Kunze. Die Diskutanten wünschen sich, dass die Gesellschaft wieder zueinander findet, dass Polarisierung wieder abnimmt. „In dieser bewegten Zeit ist jeder gefragt, Farbe zu bekennen", so Stephan Böttcher. Für Elisabeth Kunze ist am Ende wichtig, dass wir immer wieder daran glauben, dass Wunder möglich sind und Menschen zu einander finden.