Teilhabetag in Reichenwalde: traditioneller Ort, moderne Ideen, Gemeinschaft verwirklichen
Die Wohnstätten Reichenwalde waren am ersten Juni-Samstag Gastgeber für den 2. Teilhabetag im Amt Scharmützelsee südöstlich von Berlin. Es war eine gelungene Veranstaltung und zugleich zu erleben, wie die Wohnstätten Reichenwalde im Sozialraum eingebunden sind und wie sie sich weiter öffnen können.
Die Sonne strahlte schon am frühen Vormittag mit den Darstellerinnen und Darstellern des Theaterstücks „Die Lebensstationen“ der Gruppe „Die Freundschaft“ aus Erkner um die Wette. In der fast bis auf den letzten Platz gefüllten Veranstaltungsscheune sorgten die ebenso frisch wie liebenswürdig dargestellten Episoden für großen Beifall der Gäste.
Marina Bade, Sozialarbeiterin, und Frank Tschentscher, Verbundleitung Süd-Ost Brandenburg, drückten im Gespräch aus, dass sie stolz und froh darüber seien, den erst 2. regionalen Teilhabetag quasi als „Heimspiel“ gestalten zu können. Gemeinsam mit dem veranstaltenden Senioren- und Behindertenbeirat Scharmützelsee (SBBS) hatte man im Innenhof des 98jährigen Stiftungsgeländes eine bunte Wohlfühllandschaft mit Info- und Imbissständen entstehen lassen, in der man schnell miteinander ins Gespräch kam. Das würdigte auch Waldtraut Böker, Vorsitzende des SBBS, für die der Veranstaltungsort zum Auftakt der Seniorenwoche 2023 nicht besser gewählt sein könnte.
Frank Tschentscher unterstrich, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Reichenwalder Wohnstätten traditionell gut in die umgebende dörfliche Gemeinschaft eingebunden sind. Es gibt zum Teil schon seit vielen Jahren enge Kontakte bei Weihnachtsfeiern. Das jährliche Sommerfest der Stiftung sei genauso ein regionaler Höhepunkt wie der von der Reichenwalder Kirchgemeinde veranstaltete Adventsmarkt. Doch: die regionale Teilhabe sei auf dem flachen Land manchmal nicht so einfach wie in der Stadt, betont Tschentscher. „Uns fehlen Angebote für die Bewohnerinnen und Bewohner wie Feuerwehr und Fußballverein.“ Und wenn, dann erwarte man dort zuweilen Leistungen, die von den von der Stiftung betreuten Menschen einfach nicht erbracht werden könnten.
Hofcafé in Planung
Auch schon deswegen sei ein sehr wichtiges Projekt für die nähere Zukunft ein Hofcafé, das schon im kommenden Jahr an den Start gehen soll. „Dort werden Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam mit Mitarbeitenden der Stiftung arbeiten“, erläutert Marina Bade. Das Café lädt auch zufällig vorbeikommende Radler oder Wanderer zur Rast ein. „Wir schaffen so ein niedrigschwelliges Angebot zum Kennenlernen also.“ Aber auch die kürzlich dezentral in einem Storkower Wohnblock lebenden elf Menschen, die einst in Reichenwalde wohnten, sprächen, so Tschentscher, für eine neue Art der Teilhabe. „Wir wollen keine Sonderwelten für Bewohnerinnen und Bewohner schaffen, aber wir müssen mehr als zuvor um sehr individuelle Lösungen für den oder die Einzelne ringen“, ist sich Tschentscher sicher. Ganz in diesem Sinne habe er auch schon sehr ermutigende Gespräche mit der Storkower Kirchgemeinde geführt. Die ganze Stadt Storkow, einschließlich ihrer Vereine, soll stärker als Sozialraum für die Reichenwalder erobert werden.
Rechtzeitig handeln
Im Mittelpunkt der vormittäglichen Fachvorträge und der daran anschließenden Podiumsdiskussion stand das Thema „Demenz“ aus medizinischer, rechtlicher und pflegerischer Sicht. Dr. Bernd Gestewitz, Facharzt für Neurologie, verwies in seinem Vortrag anschaulich auf den Zusammenhang von Hirnleistungsstörungen und Lebensalter. Wer 70 Jahre alt ist kann zu zwei bis fünf Prozent daran erkranken, im Alter von 90 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit dafür dagegen bei rund 30 %. Um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen seien deren schnelle Erkennung und entsprechende medizinische und pflegerische Hilfen wichtig.
Auch Sigrun von Hasseln-Grindel, Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Senioren- und Behindertenrecht und Vorsitzende Richterin am Landgericht a.D., riet unter der Überschrift „Rechtliche Probleme bei Demenz“ zu schnellem Handeln. Da Demenz in der UN-Behindertenkonvention als Behinderung anerkannt sei, habe man in Deutschland Zugang zu schützenden Gesetzen. Die würden in den meisten Fällen aber nur greifen, wenn Demenz als solche bei der Person anerkannt sei. Delikt-, Geschäfts- und Schuldunfähigkeit müssten also rechtzeitig attestiert werden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Christel Henk bot sie für den Nachmittag individuelle kostenlose Beratungsgespräche in der Veranstaltungsscheune an.
Gegenseitig helfen
Claudia Graef, Leiterin des Demenz-Stammtisches und der Demenz-Wohngemeinschaft Storkow, wies auf die hohe Belastung für Betreuende von Demenzpatienten hin, vor allem in den Familien. Insbesondere auch deswegen, weil der Umgang mit der Erkrankung oft noch schambehaftet und selten offensiv sei. Man müsse gezielt Auszeiten für fast immer „24/7“ unter Hochdruck stehende Familienangehörige schaffen, wozu auch viel mehr Ehrenamtler als bisher nötig wären.
In der Podiumsdiskussion wies Frank Tschentscher darauf hin, dass man deshalb den Weg gefunden habe, dass sich Gruppen gegenseitig helfen. Auch Wohngemeinschaften mit einem Mix aus Demenzerkrankten und nicht an Demenz Erkrankten können da hilfreich sein.
Mehrfach wurde im Frage-Antwort-Spiel angesprochen, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den gesetzlich bestellten Betreuern ist. Man beklagte neben einem immer größer werdenden „Papierkrieg“, dass diese zu oft nur per Mail oder Telefonat und zu selten im Direktkontakt stattfindet.
Hintergrund: Die Wohnstätten Reichenwalde feiern in zwei Jahren ihren 100. Gründungstag.
Gegenwärtig leben dort 88 Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und/oder psychischen Erkrankungen, davon 16 mit erworbenen Hirnschädigungen.
Andreas Gerlof