Fachtag Hoffnungstaler Stiftung Lobetal: „Lebens(un)wertes Leben?“ Viele Erkenntnisse. Viele neue Fragen. Dranbleiben.
Fachtag „Lebens(un)wertes Leben?“ Viele Erkenntnisse. Viele neue Fragen. Dranbleiben.
Am 4. Mai fand anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ein Fachtag zum Thema „Lebens(un)wertes Leben?“ in Lobetal statt. Was haben Eugenik, Euthanasie und assistierter Suizid gemeinsam? Welche Positionen gibt es, was kann die Position der Stiftung sein und warum? Die rund 100 Teilnehmenden haben sich intensiv damit auseinandergesetzt. Impulse kamen von Dr. Uwe Kaminsky, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin, mit dem Beitrag „Der „gute Tod“ und das schlechte Sterben – Diskussionen über „Euthanasie“ und Eugenik im historischen Rückblick.“ Prof. Dr. Christine Bartsch, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin referierte „Hilfe beim Aus-dem-Leben-scheiden – wer ist zuständig und (wie) kann Missbrauch verhindert werden?“ Pastorin Andrea Wagner-Pinggéra, Theologische Geschäftsführerin der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal ging auf das Thema „Theologie des Helfens und der Menschenwürde“ ein, Martin Wulff, Geschäftsführer der Stiftung bezog Position zum assistierten Suizid.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Dranbleiben. Es gibt keine einfachen Antworten. Diese können immer nur individuell sein, bezogen auf den einzelnen Menschen, und es braucht ein Setting, in dem dies ausgetauscht und reflektiert werden kann.
Martin Wulff kommt sofort zum zentralen Punkt: „Dieser Fachtag trifft die DNA unserer Stiftung. Wir haben ein Thema gewählt, das unsere Stiftung grundlegend berührt, fundamental ist.“ Er fragt: „Gibt es lebens(un)wertes Leben? Gibt es Leben, das man einfach so beenden kann? Gibt es Leben, das keine Rechte und keine Würde hat? Gibt es Leben, das der Ökonomie unterworfen ist?“
Er verweist auf die Leistung der Anstaltsleiter Paul Braune und Friedrich von Bodelschwingh sowie Diakonisse Elisabeth Schwartzkopff. Sie machten das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten öffentlich, verhinderten Deportationen und verhinderten so Schlimmeres.
Für ihn verknüpfe sich das Thema mit dem gesellschaftlichen Diskurs um den assistierten Suizid. Er beschrieb die Position der v. Bodelschwinghschen Stiftungen: „Assistierter Suizid dürfe nicht zu einem Normalfall des Sterbens werden. Dies sei mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar und komme daher durch Mitarbeitende Bethels nicht infrage – auch wenn Betroffene dies wünschten.“ Bethel verstehe sich als Ort, dessen Aufgabe es sei, Sterbende zu begleiten, etwa mit Hospiz- und Palliativangeboten. Die Häuser sollten keine Orte sein, in denen man in welcher Form auch immer mit dem Angebot der Suizidbeihilfe konfrontiert wird. Dieser Position hat sich die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal angeschlossen.
Wulff plädiert für aktive Auseinandersetzung mit diesem Thema in all seinen Facetten und auch im Blick auf Menschen mit Einschränkungen und Menschen mit psychischer Erkrankung. „Wenn wir uns mit der notwendigen Frage beschäftigen, was eine gute Begleitung von Menschen mit und ohne Behinderung am Lebensende im weitesten Sinne braucht, was wird ihm gerecht, ist die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen zwingend geboten.“ Auch wenn es eine begründete Position des Verbundes in dieser Frage gebe, so „werden wir nie zu Ende sein, sondern immer am Anfang.“ Das Thema bleibe komplex. Deshalb sei die fundierte Auseinandersetzung unerlässlich.
Dr. Uwe Kaminsky vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Berliner Charité startete mit einem geschichtlichen Exkurs rund um die Begriffe Eugenik und Euthanasie. Anhand von Zeitdokumenten zeigte er, dass weit vor der Zeit des Nationalsozialismus dieses Denken die Medizin, die Wissenschaft und die Gesellschaft beschäftigte. Das NS-Regime jedoch habe dieses Gedankengut in perfider Weise für seine Ideologie genutzt. Dr. Kaminsky machte deutlich, dass man mit pseudowissenschaftlichen Statistiken und der Pervertierung von Darwins Entwicklungslehre einen Sozialdarwinismus entwickelte und so versucht habe, im ausgehenden 19. Jahrhundert vermeintlich unwertes Leben zu diskreditieren. Die sogenannte Rassenhygiene wurde dann unter Hitler mit Tötungsprogrammen perfektioniert.
In der anschließenden Diskussion interessierte die Frage, ob aktuell dieses Denken in der Gesellschaft verankert ist, welche Rolle vorgeburtliche Diagnostik das Leben von Menschen mit Behinderung verhindert.
Das Bild des Menschen in der Bibel
Pastorin Andrea Wagner-Pinggéra entfaltet facettenreich das Thema: „Eine Theologie des Helfens zwischen Sorge und Selbstbestimmung“.
Zentral sei die Achtung der Würde des Menschen und Recht auf die eigene Persönlichkeit, vor allem wenn es um den Bereich der Teilhabe geht. Die Grenze sieht sie jedoch an dem Punkt, der die Freiheit des Mitmenschen einschränkt. Jede Absolutheit sei schwierig. Es gehe immer um das Leben in der Gemeinschaft.
Die Menschenwürde sei durch Gott gegeben und können keinem Nutzendenken unterworfen werden. Sie sei universal und habe inklusiven Charakter. Sie bezieht sich dabei auf die Schöpfungsgeschichte und zitiert aus Genesis 1: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Diese Würde habe jeder Mensch. Niemand müsse sich diese Würde verdienen. Sie gelte auch für dann, wenn ein Mensch am anderen schuldig wird.
Dennoch sind dem Menschen Grenzen gesetzt, auch in seiner Körperlichkeit. Dies sei eine Aufgabe für die Gemeinschaft, dann füreinander dazu sein, auch über vertraute Beziehungen hinweg. Dies gipfle im Begriff der Nächstenliebe, der übrigens keine Erfindung des christlichen Glaubens und ihrer Theologie sei. Hinter diesem Ansatz stecke Grundlage des diakonischen Handelns und damit auch dem Handel der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal.
Das Gebot der Nächstenliebe sei der Dreh und Angelpunkt einer helfenden Theologie. Nächstenliebe, wertschätzendes, solidarisches Handeln allen gegenüber sei eng mit der Gottesliebe verknüpft. Dieser stehe zur ganzen Menschheit. Wer diese Liebe für sich annimmt, können auch diese unterschiedslos weitergeben und leben.
Schließlich nimmt Wagner-Pinggéra Bezug auf den Evangelisten Matthäus. In Kapitel 25 beschreibt dieser, dass Hilfe und Zuwendung immer eine Tat und konkret ist. „Was Ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“
Rechtslage klingt einfach, Praxis aber kompliziert
Professorin Dr. Christine Bartsch von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin stellte ihre Ausführungen unter die Überschrift: „Hilfe beim Aus-dem-Leben-scheiden. Wer ist zuständig und wie kann Missbrauch verhindert werden?“. Die Wissenschaftlerin forscht dazu seit vielen Jahren in der Schweiz und in Deutschland und lieferte eingangs eine Begriffsklärung, was sich hinter dem Terminus „Sterbehilfe“ verbirgt. Dabei unterschied sie die Begriffe Assistierter Suizid, passive und aktive Sterbehilfe sowie lebensverkürzende Nebenwirkungen von Medikamentengaben. Einige dieser Hilfen werden strafrechtlich geahndet, andere sind erlaubt oder geduldet.
Anhand von Fallbeispielen und im Dialog mit dem Publikum verdeutlichte sie aber, dass es oft keine scharf fixierbaren Grenzen zwischen diesen vier Möglichkeiten gibt, was praktisches Handeln erschweren oder unmöglich machen kann. Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Februar 2020: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“ sei gerade diese „Hilfe Dritter“ nicht genauer gefasst und somit in manchen Situationen nicht zu leisten. Auch wenn in Deutschland bereits drei Sterbehilfevereine existierten, stehe und falle alles mit der Haltung des jeweiligen Arztes. Die Ärzteschaft selbst sei bei diesem Thema gespalten. In der Diskussion tauchten Fragen auf, die sich mit der Wirksamkeit einer Vorsorgevollmacht im Zusammenhang mit dem Assistierten Suizid befassten oder ob und wie Menschen mit psychischen oder geistigen Handicaps das Recht auf Assistierten Suizid gewährt werden dürfe bzw. kann.
Andrea Wagner-Pinggéra fasste den zweiten Teil des Fachtages wohl im Sinne vieler Anwesender zusammen: „Ich weiß jetzt mehr, meine Fragen und mein Unbehagen sind aber nicht weniger geworden.“ In diesem Sinne sei der 4. Mai der Auftakt eines längeren öffentlichen Diskussionsprozesses gewesen, der fortgesetzt werden muss. „Das ist fest im Blick“, stellte Bereichsleiterin Jeannette Pella in Aussicht.