Menschen mit Behinderung aus der Ukraine: Das Ankommen in Lobetal braucht intensive Begleitung
15. März 2022, halb sieben Uhr morgens. Das Handy von Sebastian Richter, Leiter der ambulanten Dienste im Bereich Teilhabe der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, meldet sich. Am anderen Ende Jeannette Pella, seine Chefin: „Herr Richter, wir benötigen dringend Ihre Unterstützung. Eine Familie mit zwei behinderten erwachsenen Kindern kommt gleich in Lobetal an.“
Im Gästehaus der Diakonischen Schule in Lobetal waren bereits Zimmer vorbereitet, um zumindest eine erste Hilfe und akute Versorgung zu organisieren. Eine paar Stunden später standen Kolleginnen aus der ambulanten Lebens- und Wohnbegleitung in Lobetal und begrüßten Frau S. mit ihren beiden Söhnen Andrij und Wolodimir. Wolodimir sitzt im Rollstuhl und hat eine geistige Behinderung. Andrij ist an einer Spastik erkrankt verbunden mit einer verzögerten Entwicklung.
Bei der Betreuung dieser einen Familie blieb es nicht, andere Familien kamen dazu, darunter Familie V. mit ebenfalls zwei erwachsenen Söhnen beide ebenfalls mit ebenfalls zwei erwachsenen Söhnen Sergij und Vladislav, beide ebenfalls mit Behinderung. Die Familien werden durch Gregor Hetzel betreut. „Das ist unbedingte Voraussetzung für die Begleitung. Erst recht von Familien, die einen hohen Betreuungsbedarf haben“, berichtet er. Oft seien die Dialekte so ausgeprägt, dass der Google-Dolmetscher an seine Grenzen gerät. Die Eingliederungshilfe kennt er aus seiner Tätigkeit im gemeinschaftlichen Wohnen in Ladeburg, eine Einrichtung der Stiftung.
Behördenpost überfordert, der Aufwand ist immens
Gregor Hetzel zeigt auf einen Stapel Briefe. „Allein am vergangenen Freitag war dieser Stapel im Briefkasten der Familie S.“ Behördenpost. Jobcenter, Familienkasse, Gesundheitsamt, Ausländerbehörde, Einwohnermeldeamt, Integrationsfachdienst, Arztpraxen, Fachärzte, Kliniken usw. Die Liste der Ämter und Anlaufstellen, um die Dinge für die Familie zu regeln und zu organisieren, ist lang. „Die Familie ist vollkommen überfordert mit diesen Dingen.“ Gregor Hetzel kennt sich zwar in der Eingliederungshilfe aus. Inzwischen musste er sich auch in den Dschungel von Ausländerbehörden, Aufenthaltsgenehmigungen, Sonderregelungen und Zuständigkeiten einarbeiten. Er sieht sich als Lotse und Aufenthaltsmanager und stellt fest: „Es ist alles sehr aufwändig. Es dauert lange. Die Behörden lassen sich viel Zeit.“ Es sei schon schwer genug, dass sich gesunde Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland zurechtfinden und verstehen, was sie wann tun müssen, wie sie Anträge stellen, wie sie eine ärztliche Versorgung erhalten und wie das Gesundheitssystem funktioniert, meint er und fragt sich am Beispiel der Familie V.: „Um wieviel schwieriger ist es für diese Familie, hier anzukommen, wenn der Vater, der sich zuhause um alles gekümmert hat, kürzlich in der Ukraine gestorben ist? Die Mutter ist erschütert und braucht menschlichen Beistand. Es ist ein Auf und Ab innerhalb der Familie.“
Es braucht Profis und gute Nerven
Ohne professionelle und engagierte Hilfe ist das alles nicht zu machen. Ehrenamtliche können das nicht wirklich im vollen Umfang leisten. Schon die alltäglichen Dinge bedeuten einen immensen Aufwand. Gregor Hetzel berichtet, dass die beiden erwachsenen Kinder der Familie V. wegen der Behinderung nicht alleine zuhause bleiben können. Der Einkauf durch die Mutter wird so fast unmöglich, weil die Beiden ständig größte Aufmerksamkeit einfordern. Ein Beispiel aus der Praxis: Das Krankenhaus in Eberswalde gleicht einem Labyrinth. Die Ausschilderung kann nur schwer verstanden werden. Es fehlen den Familien die kommunikative Mittel, um sich alleine zu orientieren. Es braucht Begleitung. Auch um die komplexe Krankheitsgeschichte der Familien. Die Unsicherheit über die Diagnosen und Vorgeschichte ist groß. Die Behandlung ist damit nur im direkten Gespräch mit dem Arzt möglich. Ein Aufwand und Risiko für alle. Eine andere Situation im Krankenhaus Buch: „Acht Stunden dauerte es, bis die Ultraschall-Untersuchung über die Bühne war. Die Wartezeiten waren für alle ein Stresstest“, erinnert er sich.
Die Familien lebten seit Ankunft zu dritt in den Einraumwohnungen. Ein Ort für die Familie V., wo die Kinder adäquat bleiben können, gibt es noch nicht. Keine Behörde prüft derzeit, ob eine Kostenübernahme möglich ist. Eine passende Unterkunft ist schwer zu finden. Die die Begleitung der Familie wird aktuell ausschließlich über Spenden finanziert, aufgebracht vom Freundeskreis der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal. „Wir nehmen auf. Wir unterstützen. Wir sorgen dafür, dass die Dinge geregelt werden. Wir finanzieren“, fasst Hetzel zusammen.
Der Wunsch: weniger Formalitäten, weniger Bürokratie, schnellere Entscheidungen
Sebastian Richter würde es viel lieber sehen, dass die Familie selbstständiger leben kann. Doch dazu müssten die Kinder in einer Einrichtung der Teilhabe begleitet werden können: „Für uns ist es fachlich gesehen eine Gradwanderung. Wieviel nehme ich ab, was erwarte ich an Selbstständigkeit. Diese Frage stellen wir uns täglich.“ Richter stellt auch die Strukturfrage. Er sagt: „Es könnte viel mehr Menschen geholfen werden, wenn es weniger Formalitäten gäbe, alles etwas weniger bürokratisch wäre und schneller entschieden würde.“ Die vorhandenen Regelungen des Aufenthaltsrechts funktionieren nach dem Standard. Lebenssituationen wie die von Familie S. und Familie V. brauchen einfach eine andere Herangehensweise. „Wenn die Stiftung nicht gewesen wäre, dann wäre das Schicksal dieser Familien ungewiss. Ganz sicher wäre dann die Familien nicht zusammengeblieben.“ Sebastian Richter mag gar nicht daran denken, was dann passiert wäre.
So langsam kommt Bewegung in die Sache
Immerhin kommt nach fast einem Jahr Bewegung in die Sache. Die Zuständigkeit liegt jetzt bei der Eingliederungshilfe. Eine Begutachtung ist auf den Weg gebracht. Damit kann der Hilfebedarf festgelegt, eine Leistungsvereinbarung getroffen und der Bereich Teilhabe offiziell mit der Betreuung beauftragt werden. Dann wäre auch eine Finanzierung gesichert.
Wünsche bleiben: „Ich wünsche mir vor allem weniger Formalitäten und mehr Empathie für die Menschen aus der Ukraine, die mit einer Behinderung zu uns kommen. Es braucht Unterstützung, die sich nach den Möglichkeiten dieser Menschen richtet.“ Gregor Hetzel ergänzt: „Mir ist wichtig, dass Familien wie diese es schaffen, mit unserer Unterstützung in Deutschland anzukommen, dass sie gleichgestellt werden und dass sie Teilhabe erleben.“ Hetzel ist zuversichtlich, dass das bei Familie S. gelingt. „Langsam merke ich, dass die Familie sich mit ihrer Zukunft beschäftigt, darüber nachdenkt, wie sie ihr Leben in Deutschland gestalten möchte.“ Das sind gute Voraussetzungen für das Ankommen und weitere positive Schritte.